Die sanfte Revolution von unten
© von Ralf Manthey
Die Definition und Ursprünge einer reifen Zivilgesellschaft
Bevor ich näher auf die Merkmale einer „reifen Zivilgesellschaft“ eingehen werde, möchte ich zunächst den Begriff „Zivilgesellschaft“ kurz näher definieren. Im Internet-Duden findet man folgende Definition: „die Zivilgesellschaft ist eine Gesellschaftsform, die durch selbstständige, politisch und sozial engagierte Bürger(innen) geprägt ist“. Und in Wikipedia findet man die Aussage: „….allgemein wird unter dem Begriff „Zivilgesellschaft“ meist der Teil der Gesellschaft verstanden, der nicht durch den Staat und seine Organe (Behörden, Verwaltungen) gesteuert und organisiert wird“. Beide Definitionen stellen für mich die wesentlichen Merkmale einer „reifen Zivilgesellschaft“ dar.
In den vielen zurückliegenden Jahrhunderten haben die Menschen immer wieder versucht, sich von Unterdrückung und sozialer Ungerechtigkeit zu befreien und eine humanere, freiere und sozial (und wirtschaftlich) gerechtere Gesellschaft aufzubauen, mit mehr oder weniger mäßigen Erfolg. Bereits in der Antike im 5. Jahrhundert vor Christi gab es die ersten Ansätze einer freieren und gerechteren Gesellschaftsform in Griechenland: die Demokratie (Volksherrschaft). Im Christentum gab es von den zunächst noch wenigen Anhängern die Bestrebungen sozial gerechtere und ethisch fundierte (kleine) Gemeinschaften (bzw. Gemeinden) aufzubauen, basierend auf den 10 Geboten und den Kernaussagen der „Bergpredigt“ (s. Neues Testament). Die Französische Revolution (ca. 1789 – 99) mit ihren bekannten Idealen „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ übte den folgenreichsten Einfluss auf die europäischen Gesellschaften aus. Neben den sozialen und politischen Veränderungen, wurden auch zunehmend die religiös-kirchlichen Strukturen- und Machtverhältnisse in Frage gestellt und durch Reformen verändert (s. Reformation). Diese Entwicklung mündete letztendlich in den Ende des 19. Jahrhunderts aufkommenden sozialistischen und kommunistischen Ideologien und Bewegungen. Der Sozialismus und der Kommunismus basiert aber letztendlich von seinen Grundideen auch auf den urchristlichen Idealen. Auch wenn der Kommunismus durch die Gewaltherrschaften von Stalin und Mao Tse Tung in krasser Form pervertiert wurden, hatten die theoretischen Wegbereiter dieser Revolutionen grundsätzlich gute Absichten.
Aber es war und ist der falsche Weg, wenn man bestimmte Ideale den Menschen – ohne gleichzeitigen inneren Reifungsprozess und ohne Freiwilligkeit – auf autoritäre Weise von außen überstülpt. Dies erklärt, warum sich in diesen revolutionären Systemen, wie z.B. dem Kommunismus, die eigentlich zu einer Befreiung führen sollten, nach einer gewissen Zeit die gleichen Macht- und Unterdrückungsstrukturen und den damit verbunden Abhängigkeiten, wenn auch mit anderen Vorzeichen, wieder installiert haben. Somit ist es nicht verwunderlich, dass in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, trotz aller Befreiungsbewegungen und Fortschritte, nur ein geringer Teil der westlichen Gesellschaften (i.d.R. waren es die Intellektuellen und Künstler) eine gewisse geistige Reife aufwies, während ein Großteil der Bevölkerung unreif, unselbständig, angepasst, obrigkeitshörig und abhängig blieb. Besonders das passive und obrigkeitshörige Verhalten vieler Bürger in Deutschland hat dazu geführt, dass im 20. Jahrhundert eine Nazi Diktatur überhaupt an die Macht kommen konnte, mit den bekannten negativen Folgen.
Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gegen Ende der 60er Jahre (siehe “68er Generation”) konnte sich besonders in den westlichen Ländern in größerer Zahl ein selbstbewusster, unabhängiger und reiferer Menschentypus herausbilden. Die Vertreter dieses Menschentypus bilden die sogenannte „Reife Zivilgesellschaft“. Vertreter der reifen Zivilgesellschaft findet man inzwischen (im Jahre 2018) in allen Gesellschaftsschichten (vermehrt aber in der gebildeten Mittelschicht) und sie haben einen zunehmenden stärkeren Einfluss auf gesellschaftliche Entwicklungen.
Der amerikanische Soziologe „Paul H. Ray“ hat diesen Menschentypus als die „Kultur-Kreativen“ bezeichnet. Zusammen mit seiner Frau, der Psychologin Ruth Anderson, hat Paul H. Ray Anfang der 90er Jahre 13 Jahre lang (durch Befragung von Bürgern) die Merkmale dieses Typus näher untersucht und die Ergebnisse in seinem Buch „Wie 50 Millionen Menschen die Welt verändern“ veröffentlicht (das Buch gibt es im Internet zurzeit nur in englischer Sprache).
Wodurch zeichnet sich nun aber eine reife Zivilgesellschaft konkret aus?
Die Mitglieder einer „Reifen Zivilgesellschaft“:
– geben sich nicht damit zufrieden, nur alle vier Jahre bei einer demokratischen Wahl ihre Stimme abzugeben, sondern sie wollen aktiv das gesellschaftliche Leben mitgestalten. Da sie aber gern unabhängig bleiben, trifft man sie eher selten in Parteien und konventionellen Organisationen an. Sie sind aber weder weltfremde Außenseiter noch Einzelgänger, sondern sie arbeiten gern flexibel und vernetzt in Gruppen von Gleichgesinnten mit flachen Hierarchien. Sie gründen z.B. unabhängige Interessensgruppen, Bürgerinitiativen, Stadtteilgruppen, Wohn- und Lebensgemeinschaften, freie Kindergärten und Schulen etc.
– zeichnen sich durch ganzheitliche Sicht- und Lebensweisen aus und bringen neue und unkonventionelle Ideen und Visionen zur Lösung gesellschaftlicher Missstände ein, engagieren sich sozial (z.B. durch Ehrenamt) und tragen damit zur Gestaltung einer humaneren Gesellschaft bei. Sie experimentieren mit gemeinschaftlichen Lebensformen (wie z.B. Wohnformen für Behinderte und Nicht-Behinderten oder für mehrere Generationen unter einem Dach etc.), die über das typische traditionelle Kleinfamilien-Modell hinaus gehen. Sie bevorzugen eine gemeinschaftliche Lebensform, in der die individuellen Bedürfnisse und die Bedürfnisse der Gemeinschaft in Balance gebracht werden, unter Ausschließung von Gruppenzwang, Machtmissbrauch und bloßer Unterordnung.
– wissen, dass wirklich tiefgreifende und nachhaltige Veränderungen lange Zeit brauchen und nicht über Nacht und ohne eigene Anstrengung entstehen. Außerdem ist ihnen bewusst, dass die heutigen (äußeren) gesellschaftlichen Missstände oft auch ein Spiegel eigener (innerer) Missstände sind, und dass sie nur dauerhaft im Außen etwas verändern können, wenn sie auch die Ursachen für die Missstände in sich selbst klären und lösen. Durch kritisches Hinterfragen und Selbstreflektion setzen sie sich mit ihren eigenen Schatten und Schwächen auseinander und nehmen sie als menschliche Begrenzung an. Sie sind daher auch tolerant gegenüber den Fehlern und Unzulänglichkeiten ihrer Mitmenschen eingestellt.
– sind i.d.R. gut informiert über die globalen politischen, ökologischen und wirtschaftlichen Missstände. Sie arbeiten gemeinsam mit anderen an der Lösung dieser Missstände. Anstatt aber ihre Kräfte im permanenten Kampf gegen das Negative aufzureiben (natürlich ohne sich für das Leid ihrer Mitmenschen und Umwelt zu verschließen), konzentrieren sie sich lieber auf realistische, konstruktive und positive Lösungsansätze.
– bevorzugen nachhaltig, umweltfreundlich und sozialverträglich produzierte Lebensmittel und Produkte. Auch praktizieren sie auf Grund der immer weniger werdenden Ressourcen einen gemäßigten Konsum, nach dem Motto „Weniger ist mehr“. Sie wollen aber nicht nur passive Konsumenten sein, sondern in ihrem unmittelbaren Lebensumfeld (Nachbarschaft, Gemeinde, Stadtteil etc.) eine nachhaltige und umweltfreundliche Lebenskultur aktiv mit gestalten. Z.B. legen sie eigene ökologische Gärten zur Selbstversorgung an (Gemeinschaftsgärten), unterstützen durch Einkaufsgemeinschaften ökologische Bauern vor Ort, gründen Unverpacktläden, Tauschbörsen, Repair-Cafes, Nachbarschaftshilfen und Bürgerinitiativen u.v.m.
– lieben und wertschätzen ihre Heimat und ihre geographische Herkunft auf angemessene Weise (aber ohne nationalistische Anwandlungen), gleichzeitig empfinden sie sich aber auch als ein Teil der globalen Menschheitsfamilie und haben daher ein starkes Interesse, sich übergeordnet an der Lösung globaler Probleme zu beteiligen.
– versuchen eine Brücke zwischen Tradition und Moderne und der älteren und jüngeren Generation zu bauen. Sie betonen dabei mehr das Gemeinsame als das Unterschiedliche und bringen damit angeblich Unvereinbares zu einer Synthese
– legen großen Wert auf soziale, humanistische und ethische Werte und Ideale, aber ohne sich einer bestimmten Ideologie, Partei oder religiösen Glaubensrichtung bzw. Kirche zugehörig zu fühlen. Diese Werte und Überzeugungen bringen sie ohne viel Aufhebens auf stille und doch sehr konkrete und pragmatische Weise zum Ausdruck. Sie wollen aber nicht ihre Werte anderen aufdrängen, daher ist ihnen politischer oder religiöser Fanatismus oder Extremismus befremdlich. Sie fühlen sich in erster Linie ihrem Gewissen (Innere Stimme), ihren inneren Werten und ihrer Authentizität verpflichtet als sich äußeren gesellschaftlichen und religiösen Normen und Autoritäten unreflektiert unterzuordnen. D.h., sie lassen sich nicht von außen instrumentalisieren, denn sie sind gewohnt, selbstständig und unabhängig zu denken und zu handeln.
– wollen die geistige und irdische Dimension des Menschen in eine gesunde Balance bringen. Eine Religiösität, die sich durch Scheinheiligkeit, bloße Lippenbekenntnisse und übertriebener weltlicher Absonderung oder Elitedenken äußert, ist ihnen eher suspekt. Aber genauso stehen sie einer ausschließlichen materiellen Weltsicht skeptisch gegenüber. Vielmehr begreifen sie den Geist und die Materie als zwei Aspekte des menschlichen Lebens, die es gilt in eine gesunde und ausgewogene Balance zu bringen. Um beide Aspekte ausgewogen zu leben, ist es aber erforderlich, dass Phasen der inneren Besinnung und der äußeren Aktivität sich ablösen. Diese Lebensform ist aber oft schwer mit den Strukturen der immer noch industriell geprägten Arbeitswelt vereinbar, die auf permanente Gewinnmaximierung und Ausbeutung der menschlichen und natürlichen Ressourcen ausgerichtet ist
– sind dabei, die tradierten und einengenden Rollenmuster von Mann und Frau weiter zu verändern und setzen sich für die Gleichberechtigung und die Kooperation der Geschlechter ein. Eine Folge davon ist, dass die Frauen immer mehr verantwortliche und machtvolle Positionen in der Gesellschaft übernehmen. Sie sprechen aber nicht mehr von einem „Geschlechterkampf” (wie es in den Anfangszeiten des Feminismus der Fall war), denn sie wissen, dass trotz aller Unterschiede – die ja eher gering sind – der Mann und die Frau im Wesenskern gleich sind und für die Lösung der partnerschaftlichen und familiären Probleme zusammenarbeiten müssen.
Immer mehr Männer der neuen Generation verweigern die klassischen männlichen Karrierewege und suchen sich berufliche Betätigungsfelder und Lebensentwürfe, die ihren wirklichen Talenten und Interessen entsprechen und ihnen ermöglichen, wieder mehr Zeit ihrer Familie und ihrem Privatleben zu widmen. Dabei übernehmen sie auch zunehmend Berufs- und Aufgabenfelder, die sonst eher den Frauen zugeordnet waren.
Die Zahl der Mitglieder einer „Reifen Zivilgesellschaft“ und damit ihr gesellschaftlicher Einfluss werden in den nächsten Jahren weltweit sicherlich noch ansteigen. Natürlich konnten sich die Merkmale einer reifen Zivilgesellschaft in demokratischen Ländern besser und ungehinderter entfalten als in autoritär geprägten Ländern. Aber zunehmend wirkt sich ihr Einfluss seit dem 21. Jahrhundert auch in den bisher noch autoritär regierten Ländern aus (siehe „Arabischer Frühling“). In diesen Ländern wächst eine neue Generation heran, die auf Grund der besseren Informationen (siehe Internet) viel aufgeklärter und selbstbewusster ist und sich immer schwerer unterdrücken und manipulieren lässt.
Ich möchte aber an dieser Stelle betonen, dass in den meisten westlichen und industriell geprägten Demokratien zwar oberflächlich gesehen eine relative Freiheit, Mitbestimmung und soziale Gerechtigkeit herrscht, aber bei näherer Betrachtung die sogenannte Mitbestimmung des Volkes durch den zunehmenden Einfluss der Lobbyisten von großen Wirtschaftskonzernen und der Finanzwelt immer mehr eingeschränkt wird, mit den negativen Auswirkungen auf Umwelt und Mensch. So sind z.B. Lobbyisten immer mehr an den inhaltlichen Formulierungen von Gesetzen beteiligt. Durch angeblich erleichternde Freihandelsabkommen, die aber unter Ausschluss der Öffentlichkeit verfasst werden, werden immer mehr soziale, ökologische Standards und demokratische und juristische Rechte unterlaufen. Es sieht immer mehr so aus, dass von den Regierungen und den Parteien dieser Staaten, keine gravierenden Veränderungen mehr zu erwarten sind, zu tief sind die negativen Verstrickungen mit der mächtigen globalen Wirtschaft und Finanzwelt, zu tief sind die regierenden Politiker und Entscheidungsträger – mit wenigen Ausnahmen – in alten überholten Parametern verhaftet.
Die wirklich dringend notwendigen gesellschaftlichen Veränderungen werden somit wohl kaum von „oben“ kommen, sondern vielmehr von „unten“, von der gesellschaftlichen Basis aus eingeleitet, zu der die derzeitigen Regierungsvertreter zunehmend den Kontakt verlieren. In dieser Hinsicht wird die wachsende “Reife Zivilgesellschaft” zunehmend eine immer wichtigere und entscheidende Rolle spielen.
“Meiner Meinung nach müssen alle Menschen ein stärkeres Bewusstsein für die Notwendigkeit einer weltumspannenden Verantwortung entwickeln, wenn wir die Herausforderungen des neuen Jahrhunderts meistern wollen. Jeder von uns muss lernen, nicht nur für sich, seine Familie oder seinen Staat, sondern das Wohl der gesamten Menschheit zu arbeiten und zu sorgen. Es ist heutzutage überholt, in Begriffen von “Mein Volk” oder “Mein Land” zu denken. Verantwortung für die ganze Welt ist der Schlüssel für das Überleben der Menschen auf diesem Planeten. Große, weitreichende Entwicklungen beginnen meist mit einzelnen kleinen Initiativen, so dass es also die Arbeit eines jeden Einzelnen ist, die letztendlich den Ausschlag gibt.”
(Dalai Lama; Zitat aus dem Buch „Dalai Lama,
Tag für Tag zur Mitte finden“, Seite 189,
Verlag Herder Spektrum)
Autor: Ralf Manthey, Tel. 04103 – 1888730, Email: ralf-manthey[at]online.de